Steuergerechtigkeits-Initiative: Auf welcher Nutzen(oder Schadens)erwartung entscheiden wir?

Die Volksabstimmung vom 28. November 2010 über die Steuergerechtigkeit ist auch aus politikwissenschaftlicher Sicht interessant. Denn sie wirft die Frage auf, aufgrund welcher Präferenzen abgestimmt wird.

SGI-Betroffene_Einkommen_de
Kanton, mit direkter Betroffenheit resp. mit betroffenen Gemeinden durch die SP-Steuergerechtigkeitsinitiative

In der Theorie des rationalen Wählens alles einfach: Beim Wählen und Abstimmung optimieren die BürgerInnen ihren Nutzen. Entsprechend stimmen sie ab. Sie haben eine eindeutige Präferenz und aufgrund informieren sie sich und fällen sie anhand der verfügbaren Informationen ihre Entscheidungen.

Von der Steuergerechtigkeitsinitiative der SP direkt betroffen sind 1-2 Prozent der EinwohnerInnen resp. SchweizerInnen. Käme es zu einer direkten, interessenbezogenen Entscheidung wäre das Ergebnis eindeutig. Die Initiative müsste klar angenommen werden.

Die Ja-Seite argumentiert entsprechend: Betroffen seien wenige Reiche. Das schwäche den sozialen Zusammenhalt in der Schweiz; verhindert werden könne das nur, wenn man die kantonalen und kommunalen Gesetze hinsichtlich der Besteuerung höchster Einkommen und Vermögen einander angleicht.

Die Nein-Seite widerspricht dem, aber nicht direkt. Sie sucht eine andere Entscheidung. Sie will die Problematik auf die generelle Frage des Steuerföderalismus durch Kantone und Gemeinden und auf die indirekten Folgen letztlich für alle SteuerzahlerInnen ausdehnen, wenn die Begüterten abwandern.

Die heute veröffentlichte Repräsentativ-Befragung zu den vorläufigen Stimmabsichten der BürgerInnen in Sachen Steuerinitiative der SP lässt eine erste Beurteilung der vorrangigen Nutzenerwartungen zu: Wäre am 13. Oktober 2010 entscheiden worden, wäre die Initiative aller Voraussicht nach angenommen worden.

Das Spannendste dabei ist, dass die Polarisierung zwischen den Einkommensschichten effektiv gering ausfällt. Die Privilegierung hoher Einkommen führt in breiten Schichten zu Unmut, und die Vereinheitlichung der Steuertarife im Ganzen Land findet Zuspruch. Doch zeigen sich auch Grenzen: Der Steuerföderalismus ist nicht an sich vorbei, und Aengste bezüglich neuer Steuerbelastungen können vor allem im Zusammenhang mit dem Mittelstand thematisiert werden.

Der Konflikt ist zunächst parteipolitisch: Links vs. rechts. Er ist aber auch regional: West vs. Ost. Wie er ausgeht, ist noch offen. Denn zu Beginn einer Kampagnen beurteilen die BürgerInnen das Problem. Das hilft in der Regel der Initiative. Am Ende bewerten sie meist die Lösung des Problems. Das führt bei Volksinitiativen meist zu einem Meinungsumschwung vom Ja ins Nein.

Mit Blick auf die Theorie des rationalen Wählens (und Abstimmens) kann man deshalb folgende Beobachtungen festhalten: Die BürgerInnen haben nicht eine eindeutige Präferenz. Sie haben in der Regel Präferenzordnungen. Auf welche Ebene dieser Hierarchie sie sich entscheiden, ist nicht im Voraus klar. Es hängt davon ab, was ihnen in einer bestimmten Situation am wichtigsten ist, und was in dieser Situation auch am meisten öffentlich verhandelt wird.

Entscheidungen können sehr wohl rational im Sinne der Nutzenoptimierung oder Schadensminimierung interpretiert werden. Die Krux aber ist, was der Nutzen oder Schaden ist. Das sieht anders aus, wenn man sich anhand direkter und indirekte Folgen entscheidet, es sieht auch anders aus, ob man sich als Wirtschaftssubjekt oder als StaatsbürgerIn definiert.

Wie man in diesen Hinsichten hin und her schwankt, kann man ab heute bis zum Abstimmungstag exemplarisch verfolgen.

Claude Longchamp