Hochrechnung zur eidg. Volksabstimmung über die Revision der Arbeitslosenversicherung

Heute stimmt die Schweiz über die 4. AVIG-Revision ab. Regierung und Parlament befürworten sie, die Gewerkschaften haben jedoch das Referendum ergriffen, sodass es zur Volksentscheidung kommt. Die bürgerlichen Parteien und die Wirtschaftsverbände befürworten die Revision, die rotgrünen Parteien und die Arbeitnehmerorganisationen hingegen lehnen sie ab. Eine Erstanalyse der Volksentscheidung mit 54,3 Prozent Zustimmung auf der Basis von Kantonresultaten.

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Ergebnis der Volksabstimmung über die 4. AVIG-Revision nach Kantonen
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Die Umfragen der SRG hielten eine unterdurchschnittliche Mobilisierungsabsicht fest. Es gab mehr Ja- als Nein-Stimmabsichten, doch hatte keine Seite eine Mehrheit auf sicher; zudem holten die Gegner während des Abstimmungskampfes auf. Deshalb blieb der Ausgang auch 2 Wochen vor der Volksentscheidung offen, wenn auch ein Ja wahrscheinlicher erschien als ein Nein. Erwartbar ist, dass es zu einer grösseren Differenz zwischen den Sprachregionen mit der deutsch- und der französischsprachigen Schweiz an den Polen kommt.

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Der Trend ist gesetzt. Es liegen interne Informationen aus 19 Kantonen vor, 16 mehr als bei den ersten Endergebnissen. Sie legen drei Aussagen zum Abstimmungsausgang nahe:
. Es gibt ein Ja,
. es gibt einen rideau de rösti, und
. es gibt eine unterdurchschnittliche Stimmbeteiligung.

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Die erste Hochrechnung liegt vor. Sie legt einen Ja-Anteil von rund 55 Prozent nahe; die Fehlerquote beträgt noch maximal +/-3 Prozent fest. Das Ja ist sicher.
Von den Trendkantonen, die schon fertig gezählt haben, zeigt Schaffhausen genau das Gleiche. Denn er nimmt die Vorlage mit 54,8 Prozent an.

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Die zweite Hochrechnung ergibt erneut 55 Prozent Zustimmung zur 4. AVIG-Revision. Die Sprachregionen geben die beste Erklärung für kantonalen Unterschiede. Die Differenz zwischen der deutschsprachigen Schweiz einerseits, der französisch- und italienischsprachigen anderseits beträgt rund 18 Prozentpunkte. Die Extremwert sind bei den Kantonen Appenzell-Innerrhoden oder Obwalden mit einer hochrechneten Zustimmung von rund 70 Prozent resp. im Kanton Jura zu finden, wo das Endergebnis vorliegt und ein Nein mit 76 Prozent dokumentiert.

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Die dritte Hochrechnung ergibt 54 Prozent Zustimmung. Die Veränderung gegenüber der zweiten markiert keinen Trend; sie entsteht aufgrund einer verbesserten Datenlage. Es liegen alle Gemeinden für die Hochrechnung vor; und die real eingetroffenen Kantonsresultate sind verarbeitet.

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Höhe der kantonalen Arbeitslosigkeit zur Erklärung des Abstimmungsergebnisses nach Kantonen.

Der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit im Kanton und Abstimmungsergebnis ist hart, und zwar in beiden Sprachregionen. Es gilt: Je höher die aktuelle Arbeitslosenquote in einem Kanton ist, desto stärker fällt der Widerspruch zur Revision aus.
Im Einzelfall gibt es Verstärkereffekte. So ist das Nein im Kanton Jura noch deutlicher als aufgrund der Arbeitslosenquote erwartbar. Im Wallis, in Fribourg und Neuenburg entspricht sie genau dem Erwartungswert. Sie ist dafür in der Waadt und in Genf etwas geringer. In der deutschsprachigen Schweiz sind die Ausreisserkantone etwas weniger zahlreich. Uri, sowie beide Basel haben etwas weniger Ja als erwartbar gewesen wäre, Zug und Thurgau etwas mehr Ja.

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Der Vergleich mit früheren Volksabstimmungen in ähnlichen Fragen zeigt, dass die Zustimmung heute etwas tiefer sein wird als vor 8 Jahren. Gewachsen ist die Polarisierung zwischen den Sprachregionen, und zwar von 9 auf 18 Prozent im Mittel der deutsch- und französischsprachigen Schweiz.

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Zustimmung zur AVIG-Revision 2002 als Vergleich zur Zustimmung bei der aktuellen Abstimmung nach Kantonen.

In Innerschweizer Kantonen wie Obwalden und Zug steigt beispielsweise die Bejahung, während sie in Kantonen wie Neuenburg und Jura klar heute tiefer ist. Auch der Kanton Tessin kennt eine deutlich verstärkte Ablehnung. Schliesslich sei auch auf die Entwicklung im Kanton Waadt verwiesen, wo innert 8 Jahren aus einer knappen Zustimmungsmehrheit eine klare Verwerfung wurde.

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Die Stimmbeteiligung betrug an diesem Wochenende gesamtschweizerisch hochgerechnete 35 Prozent. Das ist ein unterdurchschnittlicher Wert. Krass ist der Wert für die Teilnahme im Kanton Glarus. Mit knapp 22 Prozent mobilisierte das Thema in diesem Kanton gerade mal halb so viel wie sonst bei eidgenössischen Volksabstimmungen.

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Zustimmung zur Vorlag und Minderbeteiligung in den Kantonen: In deutschsprachigen Schweiz bei hohem Ja, in der Romandie bei starkem Nein eine verringerte Beteiligung gegenüber sonst.

Gewisse Zusammenhänge zwischen der Beteiligungsveränderung gegenüber anderen eidgenössischen Abstimmungen gibt es. Doch sind sie nicht einheitlich; selbst da zeigen sich sprachregionale Einflüsse. In der deutschsprachigen Schweiz ist bei starker Minderbeteiligung die Zustimmung zur Revision besonders hoch. In der Romandie ist es genau umgekehrt. Hier gilt, dass die Minderteilnahme die Ablehnung beförderte. Mit anderen Worten: In beiden Sprachregionen spürte man, wo die Mehrheiten sein würden. Wer nicht zu dieser gehörte, beteilgte sich auch weniger. Das waren jenseits der Saane die Befürworter der Revision, diesseits ihre Gegner.

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Die Endergebnisse der eidgenössischen Volksabstimmung vom 26. September 2010 liegen vor. Bei einer Stimmbeteiligung von 35,7 Prozent wurde die 4. AVIG-Revision mit 53,4 Prozent der Stimmen angenommen.

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Zustimmung zum Argument “Revision ist gerecht” in den Vorbefragungen zur Erklärung des Abstimmungsergebnisses nach Kantonen.

Die Gegner haben versucht, den Zorn gegenüber des Sozialabbau mit der Abzockerdebatte zu verbinden. Das ist ihnen teilweise gelungen. Ein durchschlagener Effekt lässt sich nicht nachweisen. Angekommen ist das vor allem dort, wo es auch viel Misstrauen in der Behördenpolitik gibt. Wo diese jedoch als ausgewogen angesehen worden, je als gerechte Revision angesehen wurde, versagte die Skandalisierung. Die Stossrichtung der Vorlage mobilisierte zwar über das linke Potenzial hinaus GegnerInnen, doch nicht genug, um daraus in der ganzen Schweiz eine Mehrheit werden zu lassen.

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Bilanz: Die 4. AVIG-Revision ist angenommen worden. Die Zustimmung betrug 53,6 Prozent. Die Beteiligung lag bei 35,7 Prozent. Zentrales Merkmal in den Abstimmungsergebnissen ist die erhebliche sprachregionale Differenzierung. Die deutschsprachige Schweiz stimmte zu, die französisch- und italienischsprachige Schweiz war mehrheitlich dagegen. Die Polarisierung zwischen den Sprachregionen war stärker als 8 Jahre zuvor, bei der letzten vergleichbaren Abstimmung. Die Erstanalyse zeigt, dass es einen direkten Zusammenhang mit der regionalen Arbeitslosenquote gibt, die Solidarität mit ihnen von der politischen Position abhängt. Diese war in der Romandie stärkern, in der deutschsprachigen Schweiz gewichtete man die Eigenverantwortung grösser.

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Die Kurzanalyse der Meinungsbildung im Trend zeigt, dass die Angaben in den Vorumfragen eine insgesamt richtige Einschätzung erlaubten. Der Ja-Anteil war stärker als der Nein-Prozentsatz. Die Gegner holten in der Kampagne aber auf, ihnen gelang es, Unschlüssige am Ende besser anzusprechen. Das legt auch nahe, dass die Gegner unter den Unschlüssigen mehr Stimmen machten als die Befürworter. Einen Meinungsumschwung gab es in der deutschsprachigen Schweiz nicht, in der Romandie zeichnete er sich schon früh im Abstimmungskampf ab, während dies in der italienischsprachigen Schweiz erst gegen den Schluss erfolgte.

Claude Longchamp