Was SP und Grüne zusammenhält, was sie trennt – und was sie täuscht

Sarah Nicolet, Oberassistentin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Genf, hat, gemeinsam mit ihrem Chef, Pascal Sciarini, daselbst Professor und Direktor, eine der innovativsten Analysen über die linke Wählerschaft in der Schweiz herausgegeben.

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Eines sei vorweg schon gesagt: Das Buch, das ich hier bespreche, wäre es trotz Einwänden wert, vom Französischen ins Deutsche übersetzt zu werden, und es würde den betroffenen Parteien gut anstehen, es gesamtschweizerisch zu diskutieren.

Ganz anders als viele akadamisch angehauchte Bücher, besteht “Le destin électoral de la gauche” schon auf der formalen Ebene: grafisch vorbildlich illustriert, materialreich von der ersten bis zur letzten Seite, das Ganze sauber ausgearbeitet, sind die 10 Kapitel zwischen der Einleitung und den Schlussfolgerungen ein Lesegewinn.

Linke Gemeinsamkeiten
Die generelle These, von der Linken bis Ende 2006 vorgetragen und vom Buch übernommen, lautet: Die Polarisierung der schweizerischen Politik hat sowohl der SVP wie auch der Linken in der Schweiz genützt. Doch änderte sich das 2007, indem seither, national wie kantonal, nur noch die Grünen gewinnen, während die SP Wahlen regelmässig verliert. Das stellt die Frage nach dem “warum?”.

Die gründliche Analyse des neuen Phänomens stützt sich vor allem auf die Daten der selects-Studien, die seit 1995 regelmässig nach eidgenössischen Wahlen bei BürgerInnen und KandidatInnen erhoben werden. Sie kommt, durch mich arg verkürzt, aber sachgerecht gebündelt, zu folgenden Schlüssen:

Das traditionelle Elektorat der Linken, die unteren Schichten im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft, ist, ähnlich wie in Oesterreich, Belgien, Frankreich und Norwegen, im Zeitalter der Globalisierung nationalkonservativ geworden und hat sich populistischen Rechtsparteien zugewandt. Das trifft die SP mit ihrer historischen Verbindung zur Arbeiterbewegung, nicht aber die Grünen, die ihre Entstehung dem postmaterialistischen Wertwandel der 80er verdanken. Für beide sind die neuen Mittelschichten attraktiv, sodass Rotgrün zwischen 1995 und 2003 an Wählerstimmen in vergleichbaren Elektoraten zulegen konnte.

Der SP ist es dabei gelungen, sich vor allem auf kantonaler Ebene in den Regierungen zu verstärken, während das bei den Grünen in den Gliedstaaten wie im Bundesstaat problematisch bleibt. Dafür protitieren sie von der Politisierung der Legislativ-Wahlen, wo sie sich fast ununterbrochen verstärken konnten.

Konkurrenz zwischen Rot und Grün
Das hat Konkurrenz zwischen den beiden führenden Parteien der helvetischen Linken vielerorts aufbrechen lassen. Das Elektorat war bisher sowohl in aktualisierter wie auch in potenzieller Hinsicht gerade in den Mittelschichten identisch, entwickelt neuerdings aber spezifische Präferenzen, von denen die Grünen mehr als die SP profitiert – und gemäss Genfer Analyse noch mehr profitieren könnten. Denn anders als die SP mobilisieren die Grünen ihre wertemässiges Potenzial, das sie als Partei haben könnten, schlecht.

Für die Wahl der Grünen sprechen gemäss den Genfer Politologen namentlich die kulturellen Themen. Denn sie beeinflussen die soziokulturellen Eliten in ihren Wahlentscheidungen am stärksten. So bilden Migrationsfragen – gerade auch in Abgrenzung zur SVP – die Plattform der Grünen, ihre Oeko-Wählerschaft auszuweiten, während diese bei der SP blockierend wirken, gehen doch die Präferenzen gerade hier zwischen Mittel- und Unterschichten auseinander. Ihr Dilemma ist: Je mehr sich die SP dem annimmt, umso mehr verliert sie, und je mehr sie das den Grünen überlässt, umso eher gewinnen sie. Doch sprechen die Gesellschaftsthemen aus linker Sicht unverändert für die SP. Ihre fehle aber, so der Buchbefund, eine eigentliche Offensive in Wirtschafts-, Sozial- und Finanzfragen, mit der sie ihre überzeugte, aber alternde Wählerschaft kontinuierlich erneuern könnte.

Trugschluss in der Tagespolitik und ihrer Analyse
Dieser Analyse und Würdigung kann man in weiten Teilen folgen. Sie bringt die Gemeinsamkeit und Unterschiede der zentralen Parteiangebote im linken Lager auf den Punkt. Doch bleibt die aktuelle Problemidentifikation damit etwas unvollständig, denn seit 2007 gibt es mit den Grünliberalen ein neues Produkt in der Parteienlandschaft, das aus der welschen Optik vielleicht nicht vorrangig ist, in einer nationalen Uebersicht mit Anspruch auf Perspektive aber nicht fehlen dürfte.

Das hätte die einzige Ungereimheit in der Dateninterpretation vielleicht auch verhindert. Denn alternativ zur These, dass die unterschiedliche Institutionalisierung linker Stimmen in Regierungen (SP) und Parlamenten (Grünen) die aktuelle Konkurrenz zwischen Rot und Grün begründet, wird auch diskutiert, dass die beiden Parteien in der Schweiz zu weit links stehen. Andreas Ladner hat jüngst mit einer europäisch vergleichenden Studie darauf aufmerksam gemacht, dass die britische Labour Party etwa mit der CVP zu vergleichen sei, die SP wiederum mit der Linken in Deutschland deckungsgleich sei, aber keine Schweizer Linkspartei mit der europäischen Sozialdemokratie zwischen Postkommunisten und New Labour übereinstimmt.

Mit anderen Worten: Es könnte auch sein, dass gerade die Focussierung der beiden Linksparteien auf-, zunehmend auch gegeneinander beide betriebsblind gemacht hat – etwa dafür, dass es in ihrem Potenzial Werteveränderungen gibt, für die ökologische und soziale Ausrichtungen unverändert wichtig sind, die Fixierung aber auf staatlichen Lösungen im Sinne der Umverteilung von Finanzen zum eigentlichen Problem geworden sind.

Mit dieser Auslegeordung in der Absicht, aber auch gegen die Verengnung des Buches, sei die Diskussion zur Wahlzukunft der Linken (nun auch auf Deutsch) lanciert. An tagesaktuellen Anlässen fehlt es ja nicht …

Claude Longchamp