Der Minarettsfall in Umfragen im Rückspiegel: Was war Sache, und was kann man daraus lernen?

Über Umfragen in Abstimmungskämpfen ist gerade in der Schweiz im Nachgang zur Minarett-Entscheidung viel debattiert worden. Die SRG sistierte die Publikation weiterer Umfragen vorerst und liess mehrere externe Experten die Studien begutachten. Zwischenzeitlich werden die Umfragen wieder gemacht und veröffentlicht, es wird aber zwischen einer Normal- und Spezialsituation unterschieden.

Die Gutachten

Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen kam in einer ersten, kurzen Ueberprüfung des Vorgehens zum Schluss, die Datenerhebungen und -auswertungen seien methodisch korrekt und entsprächen dem State of the Art. Die vermutete Handy-Problematik schloss er aufgrund deutscher Erfahrungen weitgehend aus. Soziale Erwünschtheit im Antwortverhalten zu kulturell tabuisierten Themen hält er im Einzelfall für eine mögliche Erklärung der Diskrepanz im Minarettsfall. Bestätigt wird diese Einschätzung auch damit, dass es bei den beiden anderen Vorlagen, die mit den gleichen Befragungen analysiert wurden, keine Daten- und Interpretationsprobleme gab.

Ein zweites, ausführliches Gutachten der Schweizer Mediensoziologen Kurt Imhof und Patrick Ettinger kritisierte den medialen Umgang mit Umfragen vor Abstimmungen. 44 Prozent aller Publikationen im Minaretts-Fall seien im Vergleich zu den Daten und Berichten überinterpretiert gewesen. Die Selbstsuggestion habe sich auf die redaktionelle Berichterstattung ausgewirkt. Den Produzenten und Erstvermittlern von Befragungen empfehlen die Experten, (noch) stärker als bisher den Charakter der Momentaufnahme zu deklarieren, von bisherigen Trends zu sprechen und die Unsicherheit des Ausgangs zu betonen. Soziale Erwünschtheit im Antwortverhalten als Folge von Meinungsdrucks schlossen auch sie nicht aus. Die Diskussion über ein Verbot der Plakate der Initiantinnen und Initianten hätte eine spezielle Situation geschaffen, die höchst kontrovers und emotional geführt worden sei. Sie raten, in vergleichbaren Situationen vermehrt auch auf andere Informationsquellen wie Online-Foren abzustellen. Auf quantifizierende Korrekturwerte für Umfragen verzichteten sie aber.

Das dritte, ebenfalls ausführliche Gutachten der Politikwissenschafter Markus Freitag, Adrian Vatter und Thomas Milic beschäftigte sich mit den unterstellten Wirkungen von Umfragen auf die Meinungsbildung. In Übereinstimmung mit den bisherigen Übersichten kommen sie zum Schluss, dass es auch im aktuellen Fall kaum empirisch gesicherte Belege für die Annahmen der Lethargie- oder Defätismus-Hypothesen gäbe. Drei Gründe bringen sie vor: Die Nutzerinnen und Nutzer publizierter Umfragen vor Abstimmungen entsprächen weitgehend dem Typ des multiplen Mediennutzers, der politisch überdurchschnittlich interessiert sei und ein weitgehend autonomes Selbstverständnis als Bürgerin respektive Bürger habe. Der aktuelle Fall weiche davon nicht ab, da es sich um eine im Alltag weitgehend bekannte Problematik handle, die thematische Prädispositionen schon vor dem Abstimmungskampf habe entstehen lassen. Statt von sozialer Erwünschtheit auszugehen, wäre es deshalb hilfreicher, von Entscheidungsambivalenz zu sprechen, wonach sich in Stimmabsichten sowohl Parteiloyalitäten als auch Alltagserfahrungen spiegeln, und zwar in einem variablen Verhältnis. Schliesslich relativierten sie Mobilisierungswirkungen von Umfragen. Sicher ausgeschlossen werden könne die Defätismus-Hypothese, weil die BefürworterInnen trotz negativer Aussichten gemäss Umfragen besonders stark mobilisiert gewesen seien. Weitgehend gilt das auch für die Lethargie-Hypothese, weil auch bei den Gegnergruppen eine im Vergleich zu allen Abstimmungen überdurchschnittliche Teilnahmehäufigkeit festgestellt werden konnte.

Diese Argumentationen der Experten überzeugten die SRG, das Instrument der Vorbefragungen weiterzuführen und die entsprechenden Studien nach einem einmaligen Unterbruch wieder zu publizieren. Angesichts der guten Erfahrungen mit rund 50 Abstimmungsvorbefragungen kann man davon ausgehen, dass sich Umfragen im Normalfall bewährt haben, im Spezialfall jedoch mit erhöhten Vorsichtsmassnahmen eingesetzt werden soll. gfs.bern hat 10 Vorsichtsmassnahmen für die eigenen Kontrollen erarbeitet.

Meine Folgerungen

Ob die im Minarettsfall ausgewiesenen Werte für die Stimmabsichten richtig oder falsch waren, konnte bis jetzt nicht eindeutig beantwortet werden. Unterstellt man soziale Erwünschtheit im Antwortverhalten, kann man von höheren Ja-Anteilen ausgehen, die aufgrund der tabuisierten Abweichung kaschiert worden seien. Folgt man dem Konzept der Entscheidungsambivalenz, können solche Annahmen täuschend sein. Nur die Relevanz der geäusserten Stimmabsichten wäre mit Blick auf den Abstimmungsentscheid stark eingeschränkt.

In der Wahlforschung ist man geneigt, solche Phänomene eher gemäss der sozialen Erwünschtheit zu interpretieren, und man kennt ansatzweise auch Korrekturfaktoren. Das heisst jedoch nicht, dass das auch bei Abstimmungen so wäre. Denn anders als bei wiederkehrenden Parteientscheidungen gibt es bei Abstimmungen angesichts der viel höheren Variabilität von Entscheidungsthemen keine eindeutigen Prädispositionen. Wenn schon leiten sie sich sowohl aus Alltagserfahrungen einerseits und parteipolitischen Bindungen anderseits ab. Strukturiert beides einen Abstimmungsentscheid in die gleiche Richtung, sollten keine Messprobleme in Umfragen entstehen. Stehen sie zueinander im Widerspruch, können Parteibindungen im Meinungsbildungsprozess in den Hintergrund treten und die Alltagserfahrungen den für den effektiven Abstimmungsentscheid determinieren.

In der Tat zeigten die verschiedenen Umfragen, die keine Mehrheit für die Minaretts-Initiative auswiesen, dass islamkritische Forderungen mehrheitsfähig waren und entsprechende Botschaften der Initiativ-Befürworter auf Zustimmung stiessen, ohne dass sie entscheidungsrelevant gewesen wären. Insbesondere bei parteipolitisch ungebundenen Bürgerinnen und Bürgern nahm deren Bedeutung für den Stimmentscheid erst mit der Zeit zu. Das lässt einen Meinungsumschwung durch plausibel erscheinen, wurde auch so kommuniziert, nach der Erstpublikation aber nicht mehr weiter vermittelt.

Unsere eigenen Erfahrungen mit Umfragen vor Abstimmungen decken sich weitgehend mit den übrigen Befunden der ExpertInnen. Es ist sogar gut möglich, dass beides drin ist: soziale Erwünschtheit und Entscheidungsambivalenz. In der Kommunikation ist das aber gar nicht das wichtigste: Das Hauptproblem ist sie mediale Stilisierung von Umfragen zu Prognosen. Die Medien suggerieren damit aber genau das Gegenteil von dem Umfragen gemäss Demoskopen sind: Momentaufnahmen. Gut gemachte Serien von Momentaufnahmen lassen gesicherte Trends erkennen, die im besten Fall auch eine Vorausschau erlauben. Punktgenaue Prognosen bleiben Abstimmungen Spekulation. Sinnvoller ist es, wenn man zuverlässig erkennt, ob eine Vorlage angenommen oder abgelehnt wird, oder ob die Entscheidung offen ist.

Claude Longchamp