Der Volkswille ist alles andere als einfach widerborstig

“Volk der Widerborste”: Unter diesem Titel setzt sich der Spiegel mit den BürgerInnen-Forderungen auseinander, welchen sich die repräsentative Demokratie unserer Nachbarn vermehrt gegenüber sieht. Ein Wider-Spruch aus meiner Feder!

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Der Berliner Zeithistoriker Paul Nolte hat wohl recht. Seine Analyse ist, dass sich die deutsche Demokratie auffächert. “Es wird immer noch die repräsentative Demokratie geben, daneben aber auch andere Formen. Ich nenne das eine ‘multiple Demokratie'”.

In der Schweiz nennt man das schon längst (halb)direkte Demokratie. Starken Exekutiven mit leistungsfähigen Verwaltungen steht ein mittelmächtiges Parlament gegenüber – und beides wird durch ausgebaute Volksinitiativen und Referenden kontrolliert, allenfalls auch gesteuert. Das gibt eine Balance zwischen den Gewalten, ohne eine eindeutig ins Zentrum zu rücken.

Die eher nüchterne Analyse des politischen Systems der Schweiz mit Vor- und Nachteilen wird in Deutschland rasch zur hochemotionalen Auseinandersetzung über staatstheoretische Prinzipien. Vordergründig lobt man, dank Bürgerbegehren lebe die Demokratie, die Menschen mischten sich ein, und sie nähmen Einfluss auf die Verhältnisse, die sie bestimmten. Und klatscht! Hintergründig schiesst man dagegen mit dem Hinweis, so entstehe keine bessere Gesellschaft, und die Modernisierung des Staates werde durch verloren gegangenen Bürgersinn blockiert. Die Gegenargumente lassen meist nicht lange auf sich warten: Die Politiker Deutschlands gelten als zu abgeklärt, was sich in mangelnder Sensibilität für das äussere, was in der Bevölkerung vor sich gehe, während die anderen darauf verweisen, einmal losgelassen, lasse sich der Mob der Volksdemokratie nicht mehr stoppen.

Da wirken ohne Zweifel historische Erfahrungen mit: Am Ende des Ersten Weltkrieges wurden die Deutschen direkt aus der fast 1000jährigen Monarchie unvermittelt in die Republik entlassen, in der sich bürgerliche und sozialistische Konzepte der Demokratie gegenüber standen, ohne dass man damit hätte Erfahrungen sammeln können. Die daraus entstandene Polarisierung führte, etwas verkürzt ausgedrückt, zum Aufstieg der Nationalsozialisten und endete in der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges. Dass es nie mehr soweit kommt, ist im Interesse aller.

Das heisst nicht, dass es die deutsche Politik keinen Demokratisierungsbedarf habe. Die 80er Jahre liessen in West, dann vor allem im Osten die Menschen auf die Strasse gehen, um gegen Unrecht zu protestieren. Seit der Widervereinigung stiegt die Zahl der BürgerInnen-Begehren; auf Länderebene sind es zwischenzeitlich rund 20 im Jahr, und in den Kommunen zählt man landauf, landab zwischenzeitlich rund 350 pro Jahr. 2010 waren zwei Volksentscheidungen auf Länderebene erfolgreich: Der Kampf gegen die Schulreform in Hamburg und der Nichtraucherschutz in Bayern, und niemand kann diese Beschlüsse ins Gegenteil umkehren. Das war zu Beginn des Jahrzehnts noch anders, als man mehrere Vorlagen, die in Volksabstimmungen angenommen wurden, durch faktischen Entscheidungen der Behörden ausgehebelte. Alles in allem sind das Demokratisierungsfortschritte, die nicht zu letzt rückläufige Mitgliederzahlen in Parteien, Kirchenaustritte, Gewerkschaftsferne und volatile Mediennutzung ausgleichen.

Gerne verweist man in Deutschland darauf, dass Volksentscheidungen nicht besonders legitimiert seien, weil die Beteiligung oft tief, sprich unter 50 Prozent, sei. Nur sind das nicht selten die Verlierer, die im Nachein so argumentieren; dem haftet auch etwas Opportunistisches an. Zur Etablierung direkter Demokratie gehört, diese nicht zu verhöhnen, auch wenn nicht alle BürgerInnen zu allen Themen und zu jedem Zeitpunkt eine Meinung haben. Das mag zwar ein schönes Ideal sein, ist aber weit von der Realität weg, ohne deshalb schlecht zu sein. Härter trifft meines Erachtens der Einwand der Gegner von Volksrechten, dass ihre Einführung zu einer Bevorteilung von Mittel- und einer Benachteilung von Unterschichten führe. Das Schweizer Beispiel lehrt nämlich, dass die Stimmbeteiligung sozialstrukturell unterschiedlich ist: Mittelständische Gruppe wie Handwerker und Bauern werden bevorteilt, obere Mittelschichten und Oberschichten haben mehr Affinitäten zu aktiver Politikgestaltung, und ältere Semester sind über dem Mittel häufig unter den EntscheiderInnen. Das erschwert es ArbeiterInnen, untere EinkommensbezügerInnen und jüngere Menschen, sich in Frage, die nach der Mehrheitsregel entschieden werden, durchzusetzen.

Doch stehen dem offensichtliche Vorteile der halbdirekten Demokratie gegenüber: Krisen im Regierungslager, Fehler in Parlamentsentscheidungen oder auch Einseitigkeiten in der öffentlichen Debatte können durch Volksentscheidungen korrigiert werden, durch Bürgerengagement kompensiert und durch Protestbewegungen kontrastiert werden. Das Geniale an der direkten Demokratie ist, dass sie dafür einen institutinalisierten Artikulationskanal mit Entscheidungskompetenz anbietet.

Mindestens auf der lokalen Ebene und in kleinen und mittelgrossen politischen Gebilden bringt dies erwünschte Machtverlagerungen, vor allem von den politischen Parteien zur BürgerInnen-Gesellschaft, mit sich und stabilisiert so das das politische System, selbst wenn es hie und da auch umstrittene Entscheidungen gibt. Denn eines ist klar: Die Wahlentscheidungen alle vier Jahre, die meist aufgrund stilisierter Konflikte in zwei oder drei Sachfragen entstehen, sind vielfach zu einfach strukturiert, um mit den reinen Mitteln der repräsentativen Demokratie der Vielfalt von Fragestellungen in der Zwischenzeit zu genügen.

Die direkte Demokratie lebt davon, dass sich die Aktiven oder Betroffenen vermehrt engagieren dürfen, von einer meist pragmatisch urteilenden Mehrheit aber kontrolliert werden. Das ist alles andere als widerborstig wie ein Wildschwein, es ist vielmehr der Wille des aktivierten Volkes, selbstbestimmt besser leben zu wollen.

Claude Longchamp