Irisches Nein demokratisiert Entscheidung zum Vertrag von Lissabon

Man erinnert sich: Am 14. Juni 2008 verwarf EU-Mitglied Irland in einer Volksabstimmung den Vertrag von Lissabon mit 53 Prozent Nein. Der Reformprozess der EU-Institutionen wurde damit erneut empfindlich gebremst, nicht aber gestoppt. Die gestrige Entscheidung der EU-Kommission verfolgt den wohl sinnvollsten Ausweg aus der Verfassungskrise: Das Führungsorgan setzt auf mehr Integration, und den spezifisch irischen Bedenken wir mehr Rechnung getragen.

Ausweg aus der Verfassungskrise: EU und Irland einigen sich über eine zweite Abstimmung mit modifiziertem Inhalt (Bild: keystone)
Ausweg aus der Verfassungskrise: EU und Irland einigen sich über eine zweite Abstimmung mit modifiziertem Inhalt (Bild: keystone)

Drei mögliche Auswege
Im Oktober dieses Jahres diskutierte man auf Initiative des iri-Instituts Europa am neu gegründete Demokratiezentrum in Aarau (Schweiz) unter Beteiligung von EU-Vertretern Möglichkeiten, um die entstandene Problematik bei der Verfassungsrevision zu lösen. Ausgehend von den schweizerischen Erfahrungen habe ich drei Wege skizziert:

Erstens, die nochmalige Abstimmung über den gleichen Vertrag.
Zweitens, eine weitere Abstimmung über einen modifizierten Vertrag.
Und drittens, eine Reform des ganzen Prozess, bei der die frühzeitige Mitwirkungen potenzieller Opponenten verstärkt wird.

Dem ersten Ausweg entspricht die Analyse, Volksabstimmungen würden, egal wozu sie stattfänden, durch Elitenkommunikation entschieden. Da die irische Ja-Kampagne im Frühsommer 2008 nicht gerade überzeugend war, wäre von einer besser Informations- und Ueberzeugungsarbei im Vorfeld einer weiteren Volksabstimmung ein anderer Abstimmungsausgang zu erwarten. Es ist offensichtlich, dass es sich dabei um ein eher gering entwickeltes Verständnis von direkter Demokratie handelt. Die Bürger und Bürgerinnen sind manipulierbar. Im Wesentlichen werden Abstimmungsausgänge durch Regierungen bestimmt, die Entscheidunge ansetzen, die Inhalte der Diskussion und die Interpretation von Ergebnissen nach ihren eigenen Interessen gestalten können.

Der zweite Ausweg nimmt ein Nein in einer Volksabstimmung für das, was es ist: Für ein Nein zum konkreten Abstimmungsgegenstand. Weder ist die EU gescheitert, noch muss Irland aus ihr austreten. Doch der Vertrag von Lissabon kann in der vorgelegten Version nicht in Kraft treten. Eine zweite Abstimmung in Irland macht nur dann Sinn, wenn der Vertrag angepasst wird und den relevanten Bedenken Rechnung trägt, die zum irischen Nein geführt haben. Dieses Verfahren ist ohne Zweifel demokratischer. Es hat aber den Nachteil, dass es die bisherigen Entscheidungen zum alten Vertragstext relativiert.

Der dritte angesprochene Ausweg ist keine Lösung für den aktuellen Fall. Er ist eine generelle Reform der Willensbildung. Er geht davon aus, dass der Einbau direktdemokratischer Entscheidungen in die insitutionell gesicherte Entscheidung nahe legt, diese selber zu demokratisieren. Das (Ueber)Gewicht der Regierungen determiniert demnach das Ergebnis von Vorschlägen, die später einer Volksabstimmung unterliegen, zu stark. Sinnvoller ist es, auch Parlamente, ja selbst NGO in die Willensbildung miteinzubeziehen, um deren allfällige Bedenken präventiv in die Entscheidfindung einzubauen.

Der Entscheid der EU

Nun hat der jüngste EU-Gipfel in Brüssel unter Nikolas Sarkozy entschieden, was in der Irland-Frage Sache ist: Als Erstes hielt er fest, dass die EU weiter bestehe und der Reformprozess fortgesetzt werden solle. Irland solle entsprechend die Möglichkeit geboten werden, weiterhin ein vollwärtiges Mitglied der EU zu sein. Das spricht für eine relativ rasche zweite Entscheidung. Konkret soll diese im Herbst 2009 stattfinden.

Zweitens sollen sich die Irinnen und Iren zu einem modifizierten Lissabonner-Vertrag äussern können. Generell geändert wird die Vertretung kleiner Mitgliedstaaten in der EU-Kommission. Wie bisher soll jedes Mitglied einen Kommissar stellen können. Damit trägt man dem wichtigsten Bedenken im Vorfeld der Entscheidung in Irland Rechnung. Zudem soll der Vertrag für Irland einige Zusätze bekommen, welche die Neutralität, das Steuerrecht und die Abtreibungsfrage aus irischer Sicht betreffen. Damit sollen Unsicherheiten abgebaut werden, welche die Gegner der Vorlage in der zweiten Abstimmung erneut zu ihren Gunsten mobilisieren könnten.

Die EU-Kommission befürwortet damit den oben skizzierten Ausweg 2. Er ist in der gegenwärtigen Situation ohne Zweifel der sinnvollste. Die Möglichkeit, direktdemokratisch legitimierte Verfassungsänderungen in der EU zu bekommen, bleibt gewahrt. Die Bedenken der Stimmenden sind aufgenommen. Mit der vermehrten Berücksichtung der Komponente Integration in den EU-Institutionen wurde dem föderalistischen Charakter der Europäischen Union vermehrt Rechnung getragen. Dem müssen zwar die anderen Mitgliedstaaten noch zustimmen. Doch hat Prozess selber einen Lernschritt gemacht, der für direktdemokratische Entscheidungen typisch ist.

Claude Longchamp